Am 01.06.2022 verstarb die geschätzte Kollegin und ehemalige GiwK-Vorsitzende Gerlinda Smaus.
Der nachfolgende Nachruf ist im Kriminologischen Journal erschienen und wird mit Erlaubnis des Verlages gleichfalls an dieser Stelle veröffentlicht.
(Granesau/Chranisov 13.12.1940 – Saarbrücken 01.06.2022)
Gerlinda Smaus war eine Wanderin zwischen sprachlichen, kulturellen und fachlichen Welten. „Tochter zweier Heimaten“, wie sie sagt: das Saarland ihr Mutterland, Böhmen ihr Vaterland. Muttersprache deutsch, dann erfolgreich in die tschechische Sprache integriert. In Prag als Soziologin ausgebildet. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen emigriert und in Saarbrücken heimisch geworden. An der Universität des Saarlandes promoviert, Assistentin am Institut für Rechts- und Sozialphilosophie, Habilitation, zuletzt Privatdozentin. Schließlich, mit 61 Jahren, ordentliche Professorin für Soziologie an der Masaryk-Universität in Brno/Brünn.
Als aktives Mitglied des „Arbeitskreises Junger Kriminologen“ hat sie regelmäßig im KrimJ veröffentlicht. Später war sie (von 1996-1998) Vorsitzende der „Gesellschaft für interdisziplinäre Kriminologie“. Ihr Werk umfasst allein auf deutsch drei Monographien, drei Sammelbände sowie zahlreiche Aufsätze (und viel mehr auf tschechisch).
Besonders hervorgehoben zu werden verdienen drei, eng miteinander verknüpfte Aspekte:
- Sie ist die Pionierin der feministischen Kriminologie in Deutschland (aber auch in der Tschechischen Republik). Allerdings war sie eine Feministin, welche „die Auffassung einer ontischen Differenz zwischen Männern und Frauen nicht teilt“. Und sie unterschied den Feminismus als eine in der Praxis notwendige Ideologie von wissenschaftlich begründeten dekonstruktiven Gendertheorien, an deren Entwicklung und Anwendung auf die Kriminologie sie bis zuletzt gearbeitet hat.
- Sie war eine entschiedene Abolitionistin, wobei sie ihren Ansatz als einen „präventiven“ bezeichnet: „Damit Angehörige von ‚subalternen‘ Schichten weniger ‚kriminalisierungsanfällig‘ werden, müsste zu allererst ihre soziale Lage in Freiheit verbessert werden.“ Sie gehört zu den Erstunterzeichner:innen des Manifests zur Abschaffung von Strafanstalten und anderen Gefängnissen (2019). Und sie verteidigte den Abolitionismus auch gegen strafgeneigte Strömungen des Feminismus („carceral feminism“).
- Sie war eine kritische Kriminalsoziologin. Im Anschluss an Fritz Sack skizzierte sie eine „materialistisch-interaktionistische“ Theorie der Kriminalität. Darin versucht sie sowohl die strukturelle Schwäche des interpretativen Ansatzes als auch das Fehlen von symbolischen, kommunikativen Elementen in der marxistischen Theorie zu überwinden. „Zu einer materialistischen Theorie im Marxschen Sinne hat es in Deutschland nicht gereicht, denn bis an die ökonomischen Wurzeln der gesellschaftlichen Verhältnisse zu kommen überfordert heutige Kriminologen und Soziologinnen.“
Gerlinda Smaus hat es in Deutschland nicht zur Professorin gebracht, obwohl sie alle Voraussetzungen dafür erfüllt hatte. Das ist ebenso beschämend wie erklärbar. Die Kriminologie ist hier in erster Linie an den juristischen Fakultäten angesiedelt und dort ist man unbrauchbar, wenn man keine juristischen Prüfungen abnehmen kann. Das haben auch andere, nicht nur Frauen, erfahren müssen. Schmerzlicher war es für sie, in Deutschland nicht „Mitglied einer wissenschaftlichen Gemeinschaft“ geworden zu sein, „die im Rentenalter weiter besteht“. Das zeigt sich auch im fast völligen Fehlen von Erwähnungen ihres Werks, ganz zu schweigen von fachlicher Auseinandersetzung damit. „Aus dieser Einsamkeit hat mich allerdings die Zusammenarbeit mit den tschechischen Universitäten […] gerettet“. Und nach ihrem Tod hat bisher niemand so liebevoll würdigend an sie erinnert wie eine ausländische Kollegin, Brunilda Pali, von der Universität Leuven.
Alle Zitate stammen aus dem einleitenden Interview zum Sammelband „Gerlinda Smaus: ‚Ich bin ich‘. Beiträge zur feministischen Kriminologie“ (hgg. von Johannes Feest und Brunilda Pali), Wiesbaden 2020.
Vgl. auch den Nachruf von Brunilda Pali „Wider than the sky: the bra- ve mind and kind heart of Gerlinda Smaus” (https://www.restorotopias. com/2022/06/09).
Johannes Feest, Bremen